Auch für Reisende von Berufs wegen gibt es immer wieder besondere Orte, die einen tiefen Eindruck hinterlassen. Der Berg des Erzengels Michael in der Normandie gehört sicher dazu. Eine kleine Insel im Wattenmeer, von den Gezeiten umspült, bekrönt von einer imposanten Abtei, an deren Spitze das Schwert der vergoldeten Erzengel-Statue am Himmel zu kratzen scheint. Ein Ort wie geschaffen für Mythen: der Erzengel selbst habe dem Bischof von Avranches den Bau angeordnet, Artus habe hier einen Drachen erschlagen und letztendlich sei hier auch der Heilige Gral verborgen.

Eine Handschrift aus dem 9. Jahrhundert berichtet vom Michaelskult auf der Felseninsel und damit einer bedeutenden Pilgerstätte des Mittelalters. Ab 933 gehört die Insel zum Herrschaftsgebiet der Herzöge der Normandie, rund 30 Jahre später lassen sich Benediktinermönche nieder. Pilger, Herzöge und Könige finanzieren mit großzügigen Schenkungen das Kloster. Im 11./12. Jahrhundert entsteht eine Abtei mit romanischer Kirche, im 13. Jahrhundert wird das Kloster im gotischen Stil erweitert. Ein überaus gewaltiges wie gewagtes Bauvorhaben in drei Ebenen auf abschüssigem Gelände und damit eine architektonische Meisterleistung, die respektvoll als „Wunder des Abendlandes“ bezeichnet wurde. Als mit der Französischen Revolution neue Zeiten anbrachen, verließen die Benediktiner die Insel und der Mont-Saint-Michel wurde bis 1863 zum Gefängnis. Die Romantik entdeckte den Zauber des Berges wieder und 1874 ernannte man die Insel zum „Monument historique“ – das entspricht der höchsten Stufe des französischen Denkmalschutzes. Die Restaurierung und Erhaltung des Mont-Saint-Michel ist eine komplexe und langwierige Aufgabe. 1966 kehrte eine Handvoll Ordensleute zurück und seit 1979 stehen der Berg und seine Bucht auf der Weltkulturerbeliste der UNESCO.

Nicht nur die Bauten selbst, auch die Natur erfordern große Aufmerksamkeit. Die schon Ende des 19. Jahrhunderts realisierte Idee, die Insel durch eine Straße gezeitenunabhängig mit der Küste zu verbinden, beschleunigte die Versandung der Bucht. 2006 initiierte der französische Staat ein Projekt zur Renaturierung. Eine Stauanlage am Fluss Couesnon sorgt nun bei Flut für die Bildung eines Stausees, der sich bei Ebbe wieder leert. Die dabei entstehende Strömung transportiert die Ablagerungen zurück ins Meer. Der ehemalige Deich ist durch einen filigranen Fußgängersteg auf Pfählen ersetzt, der vom Wasser unterspült werden kann. Die störenden Parkplätze direkt vor dem Berg wurden 2 ½ Kilometer tief ins Festland verlegt. Heute gelangt man umweltfreundlich wie tidenunabhängig per Elektro-Shuttlebus, mit der Pferdekutsche oder auch per pedes zum Mont-Saint-Michel.

Die Gezeiten in der Bucht sind die stärksten in Europa, am 21. März 2015 wurde ein Rekord-Unterschied von über 14 Metern zwischen Flut und Ebbe gemessen. Einer der ganz wenigen Tage, an denen der Mont-Saint-Michel wieder als „richtige“ Insel auch für wenige Stunden komplett vom Wasser umspült ist. Im Internet kann man auf einschlägigen Seiten die genauen Tage für dieses Naturspektakel recherchieren.

Beim Besuch des Inselberges sollte man sich darauf einstellen, nicht allein zu sein. Fast 3,5 Millionen Besucher waren es jährlich vor der Pandemie. Reges Treiben im Dorf unterhalb der Abtei gab es aber schon im Mittelalter, denn all die Pilger mussten beherbergt und verköstigt werden. Betrachten wir also die heutigen Hotels, Restaurants, Cafés, Take-Aways und Souvenirshops links und rechts der Hauptstraße, der Grand Rue, nur als logistische Weiterentwicklung. Steinhäuser und Festungsmauern begleiten auf dem Weg auf 92 Meter Höhe, eng und steil sind die Gassen und die Stufen, und immer wieder eröffnen sich bezaubernde Ausblicke. Krönender Abschluss ist natürlich der Besuch der Abtei selbst. Auf eine ausführliche Beschreibung sei hier bewusst verzichtet (dazu gibt es Reiseführer), Erwähnung sollen nur die Aussichtsterrasse in luftiger Höhe mit atemberaubender Panorama-Sicht und der eindrucksvolle Kreuzgang, der über dem Meer zu schweben scheint, finden. Man wird nicht umhinkommen, sich nach der Besichtigung zutiefst beeindruckt zu zeigen. Wer dann noch ein Naturerlebnis wünscht, dem sei eine Wattwanderung empfohlen. Selbstverständlich nur mit kundiger örtlicher Führung, denn die Flut kommt laut Victor Hugo „…à la vitesse d’un cheval au galop – wie ein Pferd im Galopp“.

Der Mont Saint-Michel

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